Diese Übersetzung eines Briefes aus Kairo an die Occupy-Bewegung in Oakland habe ich per Mail über die Mailingliste von #occupyberlin erhalten ... Sie steht auch auf
Anfang der weitergeleiteten E‑Mail:
Von: hangup
Datum: 28. Oktober 2011 18:13:18 MESZ
An: occupyberlin
Originaltext:
http://www.occupyoakland.org/2011/10/soldiarity-letter-from-cairo/
Solidaritätsbrief aus Kairo
An alle, die in den Vereinigten Staaten derzeit Parks, Plätze und
andere öffentliche Räume besetzen, eure Kameraden in Kairo beobachten
euch in Solidarität. Nachdem wir sehr viele Ratschläge von euch für den
Übergang zur Demokratie erhalten haben, dachten wir uns, dass wir an der Reihe sind, einige Ratschläge weiterzugeben.
In der Tat sind wir nun in vielerlei Hinsicht an dem gleichen Kampf
beteiligt. Dieser Kampf, den die meisten Experten den “arabischen
Frühling” nennen, hat seine Wurzeln in den auf der ganzen Welt
stattfindenden Demonstrationen, Unruhen, Streiks und Besetzungen. Ihre Fundamente liegen in den jahrelangen Kämpfen von Menschen und Volksbewegungen. Der Moment, indem wir uns gerade befinden, ist nichts Neues, da wir Ägypter und andere gegen Unterdrückungssysteme,
Entmündigung und die unkontrollierten Reißzähne des globalen Kapitalismus (ja, wir sagten es, Kapitalismus) gekämpft haben: ein System, das eine Welt erschaffen hat, die gefährlich und grausam ist für
ihre Bewohner. Während die Interessen der Regierung zunehmend den Interessen und Annehmlichkeiten des privaten, transnationalen Kapitals
gerecht werden, verwandeln sich unsere Städte und Häuser zunehmend in abstrakte und gewalttätige Orte, in Gegenstände der willkürlichen Verwüstungen der nächsten wirtschaftlichen Entwicklung oder Stadterneuerung-Regelung.
Eine gesamte Generation ist rund um den Globus herangewachsen, der
rational sowie emotional klargeworden ist, dass wir in der gegenwärtigen
Ordnung der Dinge keine Zukunft haben. Unter den
Strukturanpassungsmaßnamen und der vermeintlichen Expertise
internationaler Organisationen wie der Weltbank und des IWF lebend sahen
wir zu, wie unsere Ressourcen, Industrien und öffentliche Dienste
ausverkauft und zerlegt wurden, während der “freie Markt” eine
Abhängigkeit von ausländischen Gütern, sogar von ausländischen
Lebensmitteln, forcierte. Die Profite und Vorteile dieser befreiten
Märkte gingen wo andershin, während Ägypten und andere Länder im Süden
ihre Verelendung durch eine massive Erhöhung der Polizei-Repression und
Folter verstärkt fanden.
Die gegenwärtige Krise in Amerika und Westeuropa hat damit begonnen,
diese Realität auch zu euch nach Hause zu bringen: dass wir uns unter
den gegebenen Umständen mit, durch persönliche Verschuldung und
öffentliche Sparpolitik gebrochenem Rücken kaputt arbeiten werden
müssen. Nicht zufrieden mit den Überresten der Öffentlichkeit und des
Wohlfahrtsstaates, greifen nun der Kapitalismus und der Autoritätsstaat
sogar den privaten Bereich und das Recht der Menschen auf
menschenwürdige Unterkunft an, während Tausende von verdrängten
Hausbesitzern sich sowohl obdachlos, als auch bei genau den Banken
verschuldet sehen, welche sie auf die Straße gezwungen haben.
Also stehen wir auf eurer Seite nicht nur in eurem Versuch, das Alte
zu stürzen, sondern auch in eurem Bestreben, mit dem Neuen zu
experimentieren. Wer ist anwesend, gegen den protestiert werden kann?
Was könnten wir von ihnen fordern, das sie gewähren könnten? Wir sind
dabei zu besetzen. Wir fordern eben jene Räume des öffentlichen Handelns
zurück, die kommodifiziert, privatisiert und in den Händen der
gesichtslosen Bürokratie, Immobilienportfolios und Polizei-”schutz”
gefangen genommen wurden. Haltet fest an diesen Räumen, pflegt sie, und
lasst die Grenzen eurer Besetzungen wachsen. Wer hat schließlich diese
Parks, diese Plätze, diese Gebäude gebaut? Wessen Arbeit machte sie real
und lebenswert? Warum sollte es uns so selbstverständlich vorkommen,
dass sie uns vorenthalten werden, polizeilich überwacht und
diszipliniert? Die Zurückforderung und die gerechte und kollektive
Verwaltung dieser öffentlichen Räume ist Beweis genug für unsere
Legitimität.
In unsere eigenen Besetzungen von Tahrir trafen wir auf Leute, die
unter Tränen den Tahrirplatz betraten, weil es das erste Mal war, das
sie durch jene Straßen liefen, ohne von der Polizei belästigt zu werden;
nicht nur die Ideen sind wichtig, diese öffentlichen Räume sind
elementar für die Möglichkeit einer neuen Welt. Dies sind öffentliche
Plätze. Plätze für Versammlung, Freizeit, Treffen und Interaktion –
diese Plätze sollten der Grund sein, warum wir in Städten leben. Wo der
Staat und die Interessen der Besitzer sie unzugänglich, exklusiv oder
gefährlich gemacht haben, liegt es an uns, sicherzustellen, dass sie
sicher, inklusiv und gerecht sind. Wir müssen sie weiterhin für
jedermann öffnen, der eine bessere Welt gestalten möchte, besonders für
die marginalisierten, ausgeschlossenen und für jene Gruppen, die am
meisten gelitten haben.
Was ihr in diesen Räumen tut ist weder so grandios und abstrakt noch
alltäglich wie “echte Demokratie”; die aufblühenden Formen des Umsetzens
und des sozialen Engagements, die in den Besetzungen betrieben werden,
vermeiden die leeren Ideale und den schalen Parlamentarismus, die das
Wort Demokratie mittlerweile repräsentiert. Also müssen die Besetzungen
weitergehen, weil niemand übrig ist, um auf Reformen zu drängen. Sie
müssen weitergehen, weil wir das erschaffen, worauf wir nicht länger
warten können.
Aber die Ideologien von Besitz und Anstand werden sich erneut
manifestieren. Ob durch den offenen Widerstand von Grundbesitzern oder
öffentlichen Verwaltungen gegen eure Camps oder durch subtilere
Versuche, Räume durch Verkehrsregeln, Regeln gegen das Campen oder
Gesundheits- und Sicherheitsregeln zu kontrollieren. Es gibt einen
direkten Konflikt zwischen dem, was wir aus unseren Städten zu machen
versuchen und was das Gesetz und die Polizeisysteme, die dahinter
stehen, uns gestatten.
Wir haben uns solch direkter und indirekter Gewalt
gegenübergestellt, und tun das immer noch. Diejenigen, die gesagt haben,
die ägyptische Revolution sei friedlich, haben nicht die Schrecken
wahrgenommen, denen uns die Polizei ausgesetzt hat, noch haben sie den
Widerstand und sogar die Gewalt wahrgenommen, die die Revolutionäre
gegen die Polizei eingesetzt haben, um ihre versuchten Besetzungen und
Widerstände zu verteidigen: nach den Angaben der Regierung selbst wurden
99 Polizeiwachen in Brand gesetzt, Tausende Polizeiautos zerstört und
alle Büros der regierenden Partei wurden überall in Ägypten
niedergebrannt. Barrikaden wurden errichtet, Polizeibeamte
zurückgeschlagen und mit Steinen beworfen, noch während sie mit
Tränengas und scharfer Munition auf uns schossen. Aber am Ende des 28.
Januars hatten sie sich zurückgezogen, und wir hatten unsere Städte erobert.
Es ist nicht unser Wunsch, Gewalt auszuüben, aber es ist noch
weniger unser Wunsch, zu verlieren.
Wenn wir nicht aktiv Widerstand leisten, wenn sie kommen, um sich zu
nehmen, was wir zurückgewonnen haben, dann werden wir mit Sicherheit
verlieren. Verwechselt die Taktik, die wir verfolgten, als wir
“friedlich” riefen, nicht mit einer Fetischisierung der Gewaltlosigkeit;
wenn der Staat sofort aufgegeben hätte wären wir vor Freude überwältigt
gewesen. Aber da sie versucht haben, uns zu missbrauchen, uns zu
schlagen, uns zu töten, wussten wir, dass es keine andere Möglichkeit
gab, als zurück zu schlagen. Hätten wir uns zu Boden geworfen und es
erlaubt, uns zu verhaften, zu foltern und zu Märtyrern gemacht zu
werden um “eine Aussage zu machen”, wären wir um nichts weniger blutig
geschlagen und getötet worden. Seid darauf vorbereitet, die Dinge zu
verteidigen, die ihr besetzt habt, die ihr errichtet, denn nachdem alles
andere von uns genommen wurde, sind diese wiedereingenommenen
öffentliche Räume sehr kostbar für uns.
Um es zusammenzufasssen, ist unser einziger wirklicher Ratschlag an
euch, weiterzumachen und nicht aufzuhören. Besetzt mehr, findet euch
zusammen, baut größere und immer größere Netzwerke und hört nicht auf,
neue Wege zu finden, mit sozialem Leben, Konsensfindung und Demokratie
zu experimentieren. Endeckt neue Wege, diese Räume[Freiräume?] zu
nutzen, entdeckt neue Wege, an ihnen festzuhalten, und gebt sie nie
wieder auf. Wehrt euch kraftvoll, wenn ihr angegriffen werdet, aber
andernfalls habt Spaß an dem, was ihr tut, nehmt es leicht, habt Spaß.
Wir alle sehen nunmehr all unsere Aktionen, und wir aus Kairo möchten
euch sagen, daß wir in Solidarität zu euch stehen, und dass wir euch
lieben für das was ihr tut.
Die Gefährten aus Kairo
24. 10. 2011
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occupyberlin mailing list
occupyberlin@beyama.de
http://lists.beyama.de/cgi-bin/mailman/listinfo/occupyberlin
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