Freitag, 19. September 2008

1. Integration ist Menschenrecht

Ein Auszug aus dem neuen Wegweiser durch's AO-SF-Verfahren des Vereins mittendrin e. V.. Er enthält neben Informationen über die Möglichkeiten, wie man in Nordrhein-Westfalen integrativ beschult werden kann, auch mehrere Adressen, wohin betroffene Eltern sich hinwenden können, um umfassende Beratung zu erhalten. Die nächste ist in Bielefeld.

In Deutschland gehen behinderte Kinder auf Sonder-schulen. Ganz selbstverständlich. Wir halten das für falsch. Auch Kinder mit Behinderungen sind in
erster Linie Kinder. Sie haben ein Recht darauf, gemeinsam mit allen anderen Kindern aufzuwachsen und ihren Platz in der Gesellschaft zu finden. Wer sie
zehn Jahre lang – und damit für die gesamte Schul-zeit – von den anderen Kindern trennt und unter „Ihresgleichen“ aufwachsen lässt, behindert sie bei der Integration in die Mitte der Gesellschaft. Den fehlenden Kontakt zu (nicht oder anders behinderten) Gleichaltrigen kann ihnen keine noch so gute
Förderung in den Sonderschulen ersetzen.
Dass Integration möglich ist, zeigen uns die anderen europäischen Länder.
Italien kennt keine Förderschulen. Auch Norwegen und Schweden unterrichten rund 95 Prozent der behinder-ten Kinder in den allgemeinen Schulen. Im Schnitt
wachsen in Europa fast 70 Prozent aller behinderten Kinder integriert auf. In Deutschland sind es gerade einmal 13 Prozent. Integrative Schulen sind hierzu-lande die große Ausnahme. Ein Wahlrecht für Schüler und Eltern besteht de facto nicht. Immer wieder werden Kinder gegen den ausdrücklichen Willen ihrer Eltern einer Sonderschule zugewiesen. Damit verstößt Deutschland ebenso gegen europäische Beschlüsse wie gegen die UN-Kinderrechtskonvention und
die UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen, die ein inklusives (alle Menschen ein-beziehendes) Bildungssystem auf allen Ebenen vorschreibt.
Mit dieser Broschüre wollen wir Ihnen – trotz allem – helfen, für Ihr Kind einen Weg in die Integration zu finden. Dazu erklären wir die Verwaltungsverfahren
und informieren, wer jeweils zuständig ist. Wir geben Ihnen als Argumentationshilfe einige Gerichtsurteile an die Hand. Und wir geben Ihnen vorweg einen Rat:

Legen Sie sich frühzeitig eine gute Rechtsschutz-versicherung zu, die Sie ausdrücklich auch bei Verwaltungsgerichtsverfahren und Schulange-legenheiten unterstützt.

Dass es in Nordrhein-Westfalen den „Gemeinsamen Unterricht“ im Schulgesetz und in der Praxis gibt, haben Eltern in den 80er Jahren erkämpft. Damals entstanden „Integrationsinseln“ in Bonn, Aachen, Köln, Bielefeld und Wuppertal, in denen es einige Jahre lang gelungen ist, für (fast) jedes Kind, dessen Eltern auf eine integrative Schule bestanden, auch einen Platz im
Gemeinsamen Unterricht zu finden.
Seither ist die Versorgung mit integrativen Schulen wieder schlechter geworden – und das, obwohl die Landesregierung sich jedes Jahr rühmt, wieder mehr
Sonderpädagogen-Stellen für den Gemeinsamen Unterricht geschaffen zu haben. Einige Schulen, die vor Jahren behinderte Kinder aufgenommen haben, tun dies heute nicht mehr. An anderen Schulen hat die Qualität des Gemeinsamen Unterrichts gelitten, mit der Folge, dass sie keine schwerer behinderten Kinder mehr aufnehmen, sondern nur noch solche mit leich-tem Förderbedarf.
Die Gründe dafür liegen auch in der Personalpolitik des Landes: Immer wieder wurde etwa an Stundenzu-teilungen herumgekürzt und Lehrer-Arbeitszeiten
wurden verdichtet. So wurde zum Beispiel festgelegt, dass die „Förderkinder“ für die allgemeine Lehrer-versorgung der Schule nicht mehr mitgezählt werden.
Der Sonderpädagoge ist also nicht mehr zusätzlich da. Die Verschlechterung der Bedingungen lässt sich insbesondere am Verschwinden der geistig behinderten
Kinder aus dem Gemeinsamen Unterricht der Grund-schulen ablesen:
Ihre Zahl ist zwischen 2004 und 2007 auf ein Viertel zurückgegangen – von 1080 auf 276.
Für Sie als Eltern bedeutet das: Der Fall, dass Sie für Ihr Kind Gemeinsamen Unterricht und damit Integration beantragen, und die Angelegenheit dann „läuft“, ist die große Ausnahme. Die Regel ist: Sie werden mit Ihrem Wunsch nach Integration auf Skepsis und Unver-ständnis stoßen. Sie werden sich selbst um eine Schule bemühen müssen, die Ihr Kind aufnimmt. Sie können sich erfahrungsgemäß nicht darauf verlassen, dass Ihre Rechte im Verwaltungsverfahren ausge-schöpft werden und das Verfahren korrekt durchgeführt wird.

Leider gilt für uns in Nordrhein-Westfalen: Wer Inte-gration will, muss kämpfen! 

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