Das Urteil des BVerfG vom 18. Juli 2012 im Volltext:
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  Bundesverfassungsgericht - Pressestelle - 
http://www.bverfg.de/pressemitteilungen/bvg12-056.html  Pressemitteilung Nr. 56/2012 vom 18. Juli 2012
 Urteil vom 18. Juli 2012
 1 BvL 10/10
 1 BvL 2/11
   Regelungen zu den Grundleistungen in Form der Geldleistungen
 nach dem Asylbewerberleistungsgesetz verfassungswidrig
   Das Bundesverfassungsgericht hat heute sein Urteil über die Vorlagen des 
 Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen zu der Frage verkündet, ob die 
 existenzsichernden Geldleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz 
 (AsylbLG) verfassungsgemäß sind. 
  Über den Sachverhalt informiert die Pressemitteilung Nr. 35/2012 vom 30. 
 Mai 2012. Sie kann auf der Homepage des Bundesverfassungsgerichts 
 eingesehen werden. 
  Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat entschieden, dass die 
 Regelungen zu den Grundleistungen in Form der Geldleistungen nach dem 
 Asylbewerberleistungsgesetz mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines 
 menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit 
 Art. 20 Abs. 1 GG unvereinbar sind. Die Höhe dieser Geldleistungen ist 
 evident unzureichend, weil sie seit 1993 trotz erheblicher 
 Preissteigerungen in Deutschland nicht verändert worden ist. Zudem ist 
 die Höhe der Geldleistungen weder nachvollziehbar berechnet worden noch 
 ist eine realitätsgerechte, am Bedarf orientierte und insofern aktuell 
 existenzsichernde Berechnung ersichtlich. 
  Der Gesetzgeber ist verpflichtet, unverzüglich für den Anwendungsbereich 
 des Asylbewerberleistungsgesetzes eine Neuregelung zur Sicherung des 
 menschenwürdigen Existenzminimums zu treffen. Bis zu deren Inkrafttreten 
 hat das Bundesverfassungsgericht angesichts der existenzsichernden 
 Bedeutung der Grundleistungen eine Übergangsregelung getroffen. Danach 
 ist ab dem 1. Januar 2011 die Höhe der Geldleistungen auch im 
 Anwendungsbereich des Asylbewerberleistungsgesetzes entsprechend den 
 Grundlagen der Regelungen für den Bereich des Zweiten und Zwölften 
 Buches des Sozialgesetzbuches zu berechnen. Dies gilt rückwirkend für 
 nicht bestandskräftig festgesetzte Leistungen ab 2011 und im Übrigen für 
 die Zukunft, bis der Gesetzgeber seiner Pflicht zur Neuregelung 
 nachgekommen ist. 
  Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde: 
  1. Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 
 20 Abs. 1 GG garantiert ein Grundrecht auf Gewährleistung eines 
 menschenwürdigen Existenzminimums. Die Höhe entsprechender Leistungen 
 muss der Gesetzgeber festlegen. Sie darf nicht evident unzureichend sein 
 und muss realitätsgerecht bestimmt werden. Dies war bereits 
 Ausgangspunkt der Entscheidung des Ersten Senats des 
 Bundesverfassungsgerichts zum Arbeitslosengeld II im Februar 2010 
 (BVerfGE 125, 175). 
  a) Art. 1 Abs. 1 GG begründet den Anspruch auf Gewährleistung eines 
 menschenwürdigen Existenzminimums als Menschenrecht. Dieses Grundrecht 
 steht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der 
 Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu. Maßgeblich für 
 die Bestimmung entsprechender Leistungen sind die Gegebenheiten in 
 Deutschland, dem Land, in dem dieses Existenzminimum gewährleistet sein 
 muss. Das Grundgesetz erlaubt es nicht, das in Deutschland zu einem 
 menschenwürdigen Leben Notwendige unter Hinweis auf das Existenzniveau 
 des Herkunftslandes von Hilfebedürftigen oder auf das Existenzniveau in 
 anderen Ländern niedriger als nach den hiesigen Lebensverhältnissen 
 geboten zu bemessen. Desgleichen erlaubt es die Verfassung nicht, bei 
 der konkreten Ausgestaltung existenzsichernder Leistungen pauschal nach 
 dem Aufenthaltsstatus zu differenzieren; der Gesetzgeber muss sich immer 
 konkret an dem Bedarf an existenznotwendigen Leistungen orientieren. 
  Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen 
 Existenzminimums umfasst sowohl die physische Existenz des Menschen als 
 auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher 
 Beziehungen und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, 
 kulturellen und politischen Leben; dies sind einheitlich zu sichernde 
 Bedarfe. Art. 1 Abs. 1 GG gibt einen solchen Leistungsanspruch dem 
 Grunde nach vor. Das Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG hält den 
 Gesetzgeber an, seine konkrete Höhe entsprechend der tatsächlichen 
 existenzsichernden Bedarfe zeit- und realitätsgerecht zu bestimmen. 
  Im Übrigen ist der Gesetzgeber auch durch weitere Vorgaben verpflichtet, 
 die sich aus dem Recht der Europäischen Union und aus Völkerrecht 
 ergeben. 
  b) Die Leistungen zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz dürfen 
 nicht evident unzureichend sein und müssen zur Konkretisierung des 
 grundrechtlichen Anspruchs folgerichtig in einem inhaltlich 
 transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen und 
 jeweils aktuellen Bedarf, also realitätsgerecht, begründet werden 
 können. Diese Anforderungen beziehen sich nicht auf das 
 Gesetzgebungsverfahren, sondern dessen Ergebnisse. Das Grundgesetz lässt 
 Raum für Verhandlungen und politischen Kompromiss. Es schreibt keine 
 bestimmte Methode zur Ermittlung der Bedarfe und zur Berechnung der 
 Leistungen vor, wodurch der dem Gesetzgeber zustehende 
 Gestaltungsspielraum begrenzt würde. Werden jedoch hinsichtlich 
 bestimmter Personengruppen unterschiedliche Methoden zugrunde gelegt, 
 muss dies sachlich zu rechtfertigen sein. Zudem sind die Leistungen zur 
 Existenzsicherung fortwährend zu überprüfen und weiterzuentwickeln. 
  Ob und in welchem Umfang der Bedarf an existenznotwendigen Leistungen 
 für Menschen mit nur vorübergehendem Aufenthaltsrecht in Deutschland 
 gesetzlich abweichend von dem gesetzlich bestimmten Bedarf anderer 
 Hilfebedürftiger bestimmt werden kann, hängt folglich allein davon ab, 
 ob wegen eines nur kurzfristigen Aufenthalts konkrete Minderbedarfe 
 gegenüber Hilfeempfangenden mit Daueraufenthaltsrecht nachvollziehbar 
 festgestellt und bemessen werden können. Lassen sich tatsächlich 
 spezifische Minderbedarfe bei einem nur kurzfristigen, nicht auf Dauer 
 angelegten Aufenthalt feststellen, und will der Gesetzgeber das bei der 
 Leistungshöhe berücksichtigen, muss er diese Gruppe so definieren, dass 
 sie hinreichend zuverlässig tatsächlich nur diejenigen erfasst, die sich 
 kurzfristig in Deutschland aufhalten. Eine Orientierung kann der 
 Aufenthaltsstatus sein, doch sind stets die tatsächlichen Verhältnisse 
 zu berücksichtigen. Zudem ist eine Beschränkung auf etwaige 
 Minderbedarfe für Kurzaufenthalte jedenfalls dann nicht mehr 
 gerechtfertigt, wenn der tatsächliche Aufenthalt deutlich länger dauert. 
  c) Dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der Bemessung des 
 Existenzminimums entspricht eine zurückhaltende Kontrolle durch das 
 Bundesverfassungsgericht. Die materielle Kontrolle beschränkt sich 
 darauf, ob die Leistungen evident unzureichend sind; jenseits dieser 
 Evidenzkontrolle überprüft das Bundesverfassungsgericht, ob Leistungen 
 jeweils aktuell auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger 
 Berechnungsverfahren zu rechtfertigen sind. 
  2. Nach diesen Grundsätzen genügen die vorgelegten Vorschriften den 
 Vorgaben des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen 
 Existenzminimums nicht. 
  a) Die in § 3 AsylbLG festgelegten Geldleistungen sind evident 
 unzureichend. Ihre Höhe ist seit 1993 nicht verändert worden, obwohl das 
 Preisniveau in Deutschland seit diesem Jahr um mehr als 30 % gestiegen 
 ist. Der Gesetzgeber hatte damals in § 3 Abs. 3 AsylbLG einen 
 Anpassungsmechanismus vorgesehen, wonach die Leistungssätze regelmäßig 
 an die Lebenshaltungskosten anzugleichen sind. Eine Anpassung ist jedoch 
 nie erfolgt. Dass die Höhe der Geldleistungen heute evident unzureichend 
 ist, zeigt sich beispielsweise auch an den Leistungen für einen 
 erwachsenen Haushaltsvorstand im Vergleich mit der aktuellen 
 Leistungshöhe des allgemeinen Fürsorgerechts des Zweiten und des 
 Zwölften Buches Sozialgesetzbuch, deren Höhe in jüngster Zeit gerade zur 
 Sicherung des Existenzminimums neu festgelegt wurde. Zwar sind sie nicht 
 unmittelbar vergleichbar, jedoch ergibt sich auch bei einer bereinigten 
 Berechnung eine Differenz von etwa einem Drittel und damit ein 
 offensichtliches Defizit in der Sicherung der menschenwürdigen Existenz. 
  b) Die Grundleistungen in Form der Geldleistungen sind außerdem nicht 
 realitätsgerecht und begründbar bemessen. Der Bestimmung der 
 Leistungshöhe lagen damals und liegen auch heute keine verlässlichen 
 Daten zugrunde. Die Gesetzgebung hatte sich damals auf eine bloße 
 Kostenschätzung gestützt; auch jetzt sind keine nachvollziehbaren 
 Berechnungen vorgelegt worden oder ersichtlich. Das steht mit den 
 Anforderungen des Grundgesetzes an die Sicherung einer menschenwürdigen 
 Existenz  nicht  in Einklang. 
  Den Gesetzesmaterialien lassen sich keine Hinweise auf eine Bemessung 
 der Höhe der Geldleistungen entnehmen. Weder ist ersichtlich, welche 
 Bedarfe bei kurzfristigem Aufenthalt konkret existieren noch ist 
 beispielsweise für minderjährige Leistungsberechtigte nach dem 
 Asylbewerberleistungsgesetz ermittelt worden, welche besonderen kinder- 
 und altersspezifischen Bedarfe bestehen. Die Materialien weisen 
 lediglich die Beträge aus, die nach dem Gesetzentwurf der 
 Bundesregierung ausreichen sollen, um einen unterstellten Bedarf zu 
 decken. Auch die dem Asylbewerberleistungsgesetz ersichtlich zugrunde 
 liegende Annahme, dass eine kurze Aufenthaltsdauer die begrenzte 
 Leistungshöhe rechtfertigt, bleibt ohne hinreichend verlässliche 
 Grundlage. Überdies fehlt es an einer inhaltlich transparenten Darlegung 
 dazu, dass sich die vom Asylbewerberleistungsgesetz erfassten 
 Leistungsberechtigten typischerweise nur für kurze Zeit in Deutschland 
 aufhalten. Der Anwendungsbereich des Gesetzes ist seit 1993 mehrfach 
 erweitert worden und umfasst heute Menschen mit sehr unterschiedlichem 
 Aufenthaltsstatus; sie halten sich überwiegend bereits länger als sechs 
 Jahre in Deutschland auf. Eine kurze Aufenthaltsdauer oder 
 Aufenthaltsperspektive in Deutschland rechtfertigt es im Übrigen auch 
 nicht, den Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen 
 Existenzminimums auf die Sicherung der physischen Existenz zu 
 beschränken, denn das Grundgesetz enthält eine einheitliche 
 Leistungsgarantie, die auch das soziokulturelle Existenzminimum umfasst. 
 Die menschenwürdige Existenz muss ab Beginn des Aufenthalts in der 
 Bundesrepublik Deutschland gesichert werden. 
  Auch migrationspolitische Erwägungen, die Leistungen an 
 Asylbewerberinnen und Asylbewerber sowie Flüchtlinge niedrig zu halten, 
 um Anreize für Wanderungsbewegungen durch ein im internationalen 
 Vergleich eventuell hohes Leistungsniveau zu vermeiden, können von 
 vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und 
 soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen. Die Menschenwürde ist 
 migrationspolitisch nicht zu relativieren. 
  3. Aus der Übergangsregelung folgt beispielsweise für einen 
 Haushaltsvorstand jenseits der vorrangigen Versorgung mit Sachleistungen 
 eine deutlich höhere Geldleistung als bisher. Zur Sicherung eines 
 menschenwürdigen Existenzminimums ist dann im Jahr 2011 anstelle von 
 Sachleistungen für einen Monat von einer Geldleistung in Höhe von 206 € 
 und einem zusätzlichen Geldbetrag für die persönlichen Bedürfnisse des 
 täglichen Lebens in Höhe von 130 € auszugehen.