In den Tod geschickt, abgewiesen, ohne Bleiberecht. Der Umgang mit Flüchtlingen und Asylsuchenden ist hart an der Grenze und verlangt dringend nach humaneren Lösungen, finden unsere Tagebuch-Autorinnen und -Autoren. Die Flüchtlingspolitik setze immer noch auf Abschreckung. Das aber halte Menschen ohne Perspektive nicht davon ab, in die reiche EU zu flüchten.
Festung Europa
Diese Bilder gingen um die Welt: »Ein afrikanischer Mann, mit Jeans und Kapuzenjacke bekleidet, kriecht barfuß und auf allen Vieren über den Strand von Fuerteventura. Währenddessen liegen im Hintergrund drei ältere europäische Urlauber in Badeanzug und Badehose auf ihren Handtüchern.« Mit Blick auf die preisgekrönten Fotodokumente eines Flüchtlingsdramas schlägt der Kulturwissenschaftler Tom Holert im Tagebuch das Kapitel einer »verfehlten Einwanderungspolitik« auf. In restlos überfüllten, kleinen Fischerbooten suchen sie einen Weg aus der Armut und Perspektivlosigkeit – Boat People aus Afrika. Wer überlebt, strandet an den Südküsten Europas: Vor Zypern, Italien, Malta, Griechenland, Spanien.
Nach Schätzungen des UN-Flüchtlingshilfswerks versuchten 2008 rund 70.000 Menschen, Europa auf dem Seeweg zu erreichen. Tausende von ihnen ertranken. Viele, weil sie nach tagelanger Reise zur Umkehr gezwungen wurden – von Frontex, der EU-eigenen Grenzschutzagentur, mit deren Hilfe die Europäische Union ihre Grenzen bewacht. Auch im Namen und mit dem Geld der Bundesrepublik werden die Bootsflüchtlinge von den Außengrenzen vertrieben. 26 Helikopter, 22 Flugzeuge und 113 Schiffe hat Frontex im Einsatz – Tagebuchautor Albrecht Kieser spricht von einem »Europäischen Grenzkrieg gegen Afrikas Armut«. Im Visier seien unbewaffnete Zivilisten, die dieser Armut entfliehen wollen. Die Folge: »Flüchtlinge in Seenot werden nicht gerettet. Schiffseigner fordern ihre Kapitäne auf, einen Umweg um gesichtete Boote zu machen. Schiffern, die ›illegale‹ Migranten aufnehmen, droht der Prozess«, berichtet der Journalist.
Gegen die Praktiken von Frontex formiert sich europaweit Kritik – an den europäischen Grenzen dürfen keine menschenrechtsfreien Zonen entstehen. Karl Kopp von Pro Asyl bezeichnet die eskalierende Abschottungspolitik als »moralische Bankrotterklärung der Europäischen Union«. Europa bekräftige zwar weiterhin die Bedeutung des Asylrechts und der Menschenrechte. »In der Realität aber werden diese an den europäischen Außengrenzen zunehmend außer Kraft gesetzt.« Dabei ist die Rechtslage klar: Die Europäische Menschenrechtskonvention untersagt die Zurückweisung von Flüchtlingen. »Die EU hat ihr Fundament in den Prinzipien der Menschenrechte und der Solidarität mit den Schwächsten und Ärmsten. Sie ist verpflichtet, diese Menschen nach Möglichkeit zu schützen und ihnen zu helfen«, erinnert Dawid Danilo Bartelt von Amnesty International. Das war 2006.
September 2009: Die Innenminister der Europäischen Union verständigen sich darauf, »die Fluchtwege über See effizienter zu blockieren«. Frontex baut sein Programm weiter aus, inzwischen fließen mehr als 60 Prozent des Migrationsetats der EU in die Abwehr von Migration. »Kalt wie die tiefe See ist die Migrationspolitik an den Grenzen Europas.« Für Dietrich Eckeberg entwickelt sich der Umgang mit Flüchtlingen zum Maßstab für die Glaubwürdigkeit der EU-Menschenrechtspolitik. Mehr Transparenz wird gefordert, der Appell an die fehlende Solidarität der Völkergemeinschaft lauter. Dawid Danilo Bartelt: »Es gibt Verantwortliche. Korrupte Regime vor Ort etwa, aber auch vermachtete Weltmärkte, für die afrikanische Wirtschaft ruinöse Subventionen der EU und der USA.« Der Flüchtlingsexperte Dietrich Eckeberg pflichtet dem bei: Auf der einen Seite werde die Hungersnot in Afrika organisiert, auf der anderen Seite die Opfer ihrer Politik kriminalisiert. Damit trage die EU eine erhebliche Mitschuld an der Entwurzelung der Flüchtlinge. »Durch EU-Agrarsubventionen verlieren afrikanische Bauern mittelbar ihre Lebensgrundlagen. Durch EU-Fischereiabkommen werden verzweifelte senegalesische Fischer in die oft tödliche Flucht über den Atlantik getrieben. Und die Europäische Union? Sie schweigt und schaut weg.«
Auf Abruf geduldet: Vom Bleiberecht …
Seit Mitte 2007 gibt es bei uns das Bleiberecht. Die Regelung sollte Ende 2009 auslaufen, wurde aber von der Innenministerkonferenz um zwei weitere Jahre verlängert. Die Grundidee besticht – auf den ersten Blick: Flüchtlinge, die schon lange hier leben, jedoch nur amtlich »geduldet« sind, sollen sich ihr dauerhaftes Bleiberecht »verdienen« dürfen. Der Haken: Der Gesetzgeber knüpft das dauerhafte Bleiberecht an Hürden, die kaum jemand erfüllen kann. Hürde Nummer eins: »Das Bleiberecht erhalten nur Personen und Familien, die vor dem 1. Juli 1999 beziehungsweise dem 1. Juli 2001 eingereist sind«, erklärt Flüchtlingsberaterin Anne Harms die Stichtagsregelung. Wer nur einen Tag später kam, fällt heraus. Hürde Nummer zwei: Die Flüchtlinge müssen ihren Lebensunterhalt komplett eigenständig sichern. »Eine Forderung, die in der aktuellen Wirtschaftskrise kaum zu erfüllen ist. Auch, weil den Betroffenen meist über Jahre hinweg jegliche Qualifizierung oder Arbeitsaufnahme untersagt war.« Heinz Drucks vom NRW-Flüchtlingsrat findet deutliche Worte für eine Flüchtlingspolitik, die den wirtschaftlichen Nutzen und nicht den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Einerseits würden den Flüchtlingen Integrationsleistungen abverlangt, andererseits Integrationshilfen verweigert.
Für Drucks ist die Bleiberechtsregelung alles andere als humanitär. Faktisch davon ausgeschlossen werden die »besonders Schutzbedürftigen«. Das sind alte, kranke und behinderte Flüchtlinge, die ihren Lebensunterhalt kaum aus eigener Kraft verdienen können. Damit wollen die Innenminister eine dauerhafte »Einwanderung in die Sozialkassen« verhindern. »Grausam« nennt Anne Harms die Maßgabe, Integrationswilligkeit am Erwerbseinkommen zu bemessen. Von den rund 180.000 Geduldeten können so nur 10 bis 15 Prozent die Voraussetzungen für einen richtigen Aufenthaltstitel erfüllen. »Man sollte es deutlich sagen: Die dauerhafte Duldung ist ein konzeptioneller Bestandteil der deutschen Abschreckungspolitik gegen Flüchtlinge«, fasst Harms zusammen. »Die Praxis der Kettenduldung zielt auf die Verhinderung der Integration von Flüchtlingen. Auch mit einer von Innenpolitikern immer wieder behaupteten Einsparung von Sozialleistungen hat sie nichts zu tun. Im Endeffekt kostet sie ein Vermögen. Und soll mit Arbeitsverboten und teurer öffentlicher Sammelunterbringung eine Normalisierung des in der Regel schwer erschütterten Lebens der Flüchtlinge und ihrer Kinder verhindern. Somit ist sie ein gewollter Akt der Inhumanität.«
… und Residenzpflichten
Sie flüchten nach Deutschland, werden einer Region zugeteilt und dürfen diese dann nicht mehr verlassen. Die Rede ist von der sogenannten Residenzpflicht für Asylsuchende, die in Deutschland für etwa 40 000 Menschen gilt. Juristisch nennt sich das »räumliche Beschränkung des Aufenthaltes« . Praktisch bedeutet dies: »Keine Bewegung!«. Beate Selders stellt im Tagebuch eine wenig bekannte Seite des deutschen Flüchtlingsalltags vor. Wer seine Freunde, den muttersprachlichen Gottesdienst, die Bibliothek in der Nachbarstadt besuchen will, braucht eine Sondergenehmigung – meist gegen Gebühr. »Asylsuchende und Geduldete bekommen in der Regel nur die Hälfte der üblichen Sozialhilfe als Sachleistung zugewiesen. Das sind nur 40 Euro im Monat in bar. Ich frage mich: Wenn sie 10 Euro für die Genehmigung zahlen, wovon sollen sie noch die Fahrkarte kaufen?« Verstöße werden mit Geld- oder Freiheitsstrafen geahndet, berichtet die Journalistin. »Viele übertreten diese Gesetze und werden dann kriminalisiert, gelten als vorbestraft wegen einer Handlung, die für alle anderen Menschen selbstverständlich ist: das Übertreten einer Landkreisgrenze.«
Viele Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen sehen wie Beate Selders in dem »Gesetz der verordneten Lebensbedingungen« eine »diskriminierende Praxis«. In einer Petition fordern sie unsere Parlamentarier derzeit auf, die Residenzpflicht abzuschaffen. Der Ausgang ist offen – bis dahin bleiben Fragen. Beate Selders: »Wie wirkt es sich auf die Verfasstheit unserer Gesellschaft aus, wenn einer Gruppe von Menschen elementare Grundrechte verweigert werden? Und welche Gruppe wird die nächste sein? Die Beschneidung der Grundrechte von Menschen mit geringem Status und ohne Lobby ist immer nur der erste Schritt. Wir müssen uns fragen: Wie glaubwürdig und wirkungsvoll ist das staatliche Engagement gegen Intoleranz und rassistische Gewalt, wenn die davon Betroffenen – meist Flüchtlinge – per Gesetz ausgegrenzt werden?«
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